Methodik

„Nur“ Stellvertreter sein? – Vom Wert und der Bedeutung der Stellvertreterrolle in Aufstellungen

Das Phänomen der Stellvertretung

Wenn ein Teilnehmer einer Familienaufstellung oder Systemaufstellung gebeten wird, in einer Aufstellung eine andere, meist nicht anwesende Person darzustellen, nennt man diesen Teilnehmer für die Dauer der Aufstellung Stellvertreter oder Repräsentant, da er die andere Person symbolisch repräsentiert.

Das Beeindruckende und immer wieder quasi Magische dabei ist, dass die Stellvertreter dabei meist stimmig Gefühle, Körpehaltungen und Verhalten in der Aufstellung zeigen, die treffend zu der vertretenen wirklichen Person passen. Und das ganz ohne viel oder überhaupt Information über diese zu haben, geschweige denn, diese zu kennen. Von diesem als repräsentierende Wahrnehmung bezeichnetem Phänomen lebt die Dynamik einer Aufstellung in einer Gruppe: Sie sorgt für die überraschenden Erkenntnisse und Wendungen, die sich häufig in Aufstellungen ergeben.

Tritt man in einer Aufstellungsrunde aus dem äußeren Kreis der Beobachter in den inneren Kreis der Aufgestellten – wird man also wie oben beschrieben zum Repräsentanten – so tritt man auch in die Systemdynamik des aufgestellten Beziehungsgeflechts ein:

In der Aufstellung einer Beziehung beispielsweise tritt man etwa seinem Partner/ seiner Partnerin gegenüber und erfährt, wie es sich körperlich, emotional und psychisch anfühlt, wenn der andere näher kommt oder sich abwendet. In komplexeren Aufstellungen ist man Teil einer Familie oder Firma und erfährt etwa, wie es ist, als Abhängiger – Kind oder Angestellter – von einem sehr gefühlskalten Vater/ Chef dominiert zu werden: Man reagiert mit Protest, Hilflosigkeit oder Unterwerfung und erlebt dies auch als Stellvertreter deutlich körperlich-emotional, z.B. als Wut oder Druck in der Brust. Oder aber man erlebt sich selbst in der Stellvertreterrolle eines wertschätzenden, liebevollen Vaters, der selbst eine gute Verbindung zu seinem eigenen Vater hat und blickt stolz auf seine Kinder.

Stellvertreter machen reichhaltige Beziehungserfahrungen

Solche und viele andere Beziehungserfahrungen macht man in der Stellvertreterrolle. Das ist eine äußerst bereichernde Erfahrung! Und zusätzlich zu diesem körperlich-seelischen Einblick in die (Beziehungs-)Welt eines anderen Menschen bearbeitet man seine eigenen Themen oft gleich mit!

Häufig ist es sowieso kein Zufall, wer konkret für eine Stellvertreterrolle ausgewählt wird. Oft hat der oder die Klienten, für welche die Aufstellung ist, unbewusst irgendeine mehr oder weniger entfernte Ähnlichkeit zu der Person, die dieser vertreten soll, im zukünftigen Stellvertreter gesehen. So kommt es, dass viele die Stellvertreterrolle als sehr wertvoll und persönlich bereichernd empfinden. Das höre ich dann auch oft als Rückmeldung am Ende eines Aufstellungstages: „Ich habe als Stellvertreter ganz viel für mich mitgenommen! Ich habe ein ganz ähnliches Thema!“

Auf der anderen Seite empfinde ich es ebenfalls als sehr bereichernd, wenn ein Klient oder eine Klienten mich für eine Stellvertreterrolle auswählt, die mir selbst etwas fremd ist: Durch diese Differenzerfahrung zu meinem typischen Verhalten und Erleben, erfahre ich für mein eigenes Handeln und meine persönliche Entwicklung erfrischende Impulse: „So kann man das auch sehen! So kann man auch handeln! Aha! “

Was ermöglicht Stellvertretung als Phänomen

1. klassische Erklärungsansätze?

Dazu, wie es möglich ist, dass wir Menschen so leicht in Stellvertretung gehen können und draus neuen Erfahrungen ziehen, gibt es zwar viele Erklärungsansätze, aber bislang aus meiner Sicht nichts Befriedigendes oder Tragfähiges. Verkürzt zusammengefasst wird häufig mehr oder weniger metaphorisch erklärt, dass man als Repräsentant Informationen aus einem Aufstellungsfeld empfange, das dann je nach Gusto biologisch als morphogenetisches Feld nach Sheldrake, physikalisch durch Quanten oder spirituell konzeptualisiert wird. Was die Sache aus meiner Sicht aber nur noch für eingeweihte (Biologen, Physiker oder Geistliche, die sich mit den entsprechenden Phänomenen auskennen) begreifbar macht, mithin also esoterisch macht (von esoterisch = etwas Irrationales, Rätselhaftes bis Nebulöses, das nur von Eingeweihten zu verstehen ist [Wikipedia, „esotherisch“]. Was also letztlich gar keine hilfreiche Erklärung, sondern im Gegenteil Verdunklung anbietet.

2. eigene Beobachtungen zur Stellvertretung

Ich selbst stehe diesen Theorien wie erkennbar sehr skeptisch gegenüber, weil sie für mich nicht viel erklären, sondern eher noch Rätsel aufwerfen.
Allerdings habe ich immer wieder in Aufstellungen konkrete Beobachtungen gemacht, was sich ändert, wenn jemand in eine Stellvertretung geht. Und aus diesen Beobachtungen ergibt sich zwar ein viel banalerer, entzaubernder Erklärungsansatz, der aber dafür durchaus anschlussfähig zu anderen Kernaspekten der Aufstellungsarbeit, wie der Leitung und Atmosphäre ist:

Wenn wir einem fremden Menschen in die Augen schauen, blickt einer von beiden innerhalb weniger Sekunden weg – andernfalls entsteht ein Gefühl von Anzeihung/ Verbundenheit oder Agression/ Trennung. Das ist eine soziale Norm, die wir alle erlernt haben. Das sieht man schon daran, dass Kleinkinder und Babies einen lange und unverwandt in die Augen schauen, also diese Norm noch nicht erlernt haben.

In einer Aufstellung wiederum habe ich immer wieder bemerkt, dass man als Stellvertreter einem anderen Stellvertreter durchaus lange und direkt in die Augen schauen kann – wenn es gerade zur Rolle passt. Hier ist also die normale Verhaltensnorm oftmals suspendiert. Daraus entsteht dann auch eine ganz eigene Wirkung: Es kommen starke Emotionen und körperliche Reaktionen hoch, wie z.B. Zittern, Wut, Tränen, Freude oder körperliche Anziehung und Wärme. Ja in Aufstellungen wird solch eine Art des intensiven Kontakts mit dem Anderen und mit sich selbst sogar oft ausdrücklich von der Leitung gefördert erlaubt und gefördert: „Schau ihn an – schau in seine Augen und bleib mit dem Atem bei dir!“ Dadurch entsteht dann eine Bewegung, eine Lösung aus einer emotionalen Erstarrung, die Emotionen kommen in Fluss und das System kommt wieder in eine oft heilend-auflösende Bewegung.

3. Mein Erklärungsansatz: Stellvertretung ist Suspendierung des Egos

Diese andere Art der Begegnung in Aufstellungen ist – so glaube ich – möglich, weil wir in der Stellvertreterrolle das eigene Ego – unsere persönlichen Wünsche und Ziele, auch unsere Ängste und Kontaktscheu, unsere Werte und Normen sowie unsere Verhaltensmuster – teilweise suspendieren. Wir stehen da ja nicht als die eigene Person, sondern stellvertretend für jemand anderen. Also dürfen wir auch ganz offen und durchlässig für die Gefühle, Gedanken und körperlichen Wahrnehmungen sein, die in der Aufstellung aufkommen. Dann dienen wir so in der Aufstellung als eine Art Resonanzkörper für die Wechselwirkungen im System. Wir streifen also quasi unsere anerzogenen, sozialisierten Hüllen ab und werden einem Kind wieder ähnlicher, dass direkter und offener seine Reaktionen und seinen Ausdruck zeigt und die Atmosphäre und Beziehungen erfasst.

In der Stellvertreterrolle sind wir als Personen also auch in einem bestimmten Sinne freier, authentischer, d.h. ohne unsere Schutzhüllen und gesellschaftlichen Normen. Dies Erleben allein sehe ich als eine unglaubliche Bereicherung und ganz eigene Wachstumschance!

Leitung und Atmosphäre von Aufstellungen ermöglichen die Stellvertretung

Wenn man das Phänomen der Stellvertretung so sieht, wird auch plausibel, wieso gerade die Atmosphäre einer Aufstellungsrunde und die Haltung der Leitung so zentral ist, die die Atmosphäre ja letztlich trägt:

So sollte eine gute Leitung etwa eine ähnliche Haltung zeigen, wie in der Praxis der Achtsamkeit:
Sie sollte hinschauen, was sich zeigt (phänomenologische Haltung), aber nicht ihren Konzepten (Hypothesen und Theorien) und Wertungen vorschnell folgen. Sie ist:
– nicht wertend, sondern wertschätzend,
– ohne Ziel und Angst, sondern offen für das, was sich in der Aufstellung zeigt.

Solch eine Leitung ermöglich dann auch eine entsprechende wertschätzende, offene und vertrauensvolle Atmosphäre in der Gruppe, in der die Teilnehmer als Repräsentanten wiederum bereit sind, sich so offen, durchlässig, ja „nackt“ in Ihren Emotionen und körperliche-seelischen Reaktionen zu zeigen.

Aufstellungen entbergen Systemwirklichkeiten

Dann lässt eine Aufstellung das sich zeigen („entbergen“), was auf einer tieferen Ebene im System wirksam ist: Die – so könnte man es nennen – Systemwirklichkeit. Das also, was hinter den Regeln, Tabus, gesellschaftlichen und familiären Maskenspielchen und persönlichen Zielen und Absichten an wirklichem Erleben da ist und im Hintergrund wirkt und die Beziehungsdynamik erzeugt: verdecktes Leid und Freude, Trauer, Scham, Stolz, etc., die Erfahrung von Verbundenheit und Ausgrenzung sowie von Bezogenheit zu Lebensthemen wie Tod, Schuld, Schicksal, Glaube, etc.

… und sind nicht alltägliche Erfahrungsräume

Aufstellungen sind also – so wie ich sie verstehe – weit mehr als eine hilfreiche Methode zur Lösung von individuellen Problemen. Aufstellungen sind Räume, in denen wir nicht-alltägliche Wachstumserfahrungen machen können, in denen wir erleben, wie wir anders, wertschätzender, offener, klarer in Beziehung zu uns selbst und unserem Gegenüber (ja unserem ganzen System – sei es Familie, Firma oder Verein – ) gehen können.

Und diese Erfahrung ist nicht allein dem fallgebenden Klienten vorbehalten, sondern auch den Beobachtern im Außenkreis und hautnah und intensiv gerade den Repräsentanten in der Aufstellung!

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