Repräsentierende Wahrnehmung

– das Herzstück der Aufstellungsarbeit

Ein Beispiel und zwei Deutungen

In einer Ausstellung stehen zwei Stellvertreterinnen: eine für die Klientin und eine für die Mutter der Klientin.

Die Stellvertreterin der Klientin berichtet:

“Ich fühle mich distanziert gegenüber meiner Mutter.“

Die Stellvertreterin für die Mutter beschreibt ihre Wahrnehmung:

“Ich habe auch kein Gefühl von Nähe für meine
Tochter vor mir.“

Dies ist das alltägliche Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung in Aufstellungen: Fremde Menschen, nehmen Gefühle, Körperwahrnehmungen und Vorstellungen in Aufstellungen wahr, die nicht ihre sind, sondern erstaunlich gut zu den Personen passen, die sie stellvertreten.

Wie aber sind die Äußerungen der Stellvertreter zu deuten? Worauf beziehen sie sich? Auf die äußere Realität des repräsentierten Familiensystems oder die innere des Klienten, auf sein inneres Bild? Es gibt hierfür verschiedene Deutungsansätze, die sich auf zwei grundlegende Positionen reduzieren lassen:

  • Die Stellvertreter fühlen tatsächlich das, was die realen Personen, die sie Stellvertreter fühlen (oder gefühlt haben).
  • Die Stellvertreter spiegeln „nur“ das Erleben des Klienten in Bezug auf die Beziehung wieder, sein Bild der Beziehung (wie sie ist oder war).

Hält man sich als Aufstellungsleiter allein an die Wahrnehmung im Moment, so kann man dies schlicht nicht entscheiden. Man kann lediglich den Klienten fragen, ob die repräsentierende Wahrnehmung der Stellvertreter für ihn stimmig ist und für sich selbst nachspüren, ob die Wahrnehmungen stimmig erscheinen. Mehr nicht. Alles andere ist Kaffesatzlesen!

Im Trialog mit dem System:
Klient – Berater – Aufstellung

Die im obigen Beispiel illustrierte repräsentierende Wahrnehmung wird von den meisten AufstellerInnen als Herzstück der Aufstellungsarbeit angesehen.

Denn eine Aufstellung läuft – anders als viele andere Beratungsformen – nicht dialogisch, sondern „trialogisch“ ab. Im Trialog zwischen Berater, Klient und den repräsentierenden Wahrnehmungen der Stellvertreter, also den Rückmeldungen aus dem aufgestellten System.

Die Rückmeldungen aus dem repräsentierten System, stellen neben der Leitung und dem Klient einen dritten Part in der beraterischen Interaktion dar und zeigen – aus der Innenperspektive des Systems (beziehungsweise einzelner Stellvertreter des Systems) – wesentliche Informationen über die Dynamik im System, über Verstrickungen und Lösungsmöglichkeiten. Sie stellt damit eine dritte Sicht auf das Thema des Klienten neben der des Beraters/Therapeuten und der des Klienten dar und ermöglicht so einen Abgleich bzw. eine Unterschiedsbildung.

Anders formuliert:

Die repräsentierende Wahrnehmung der Stellvertreter liefert eine neutralere oder auch mulitperspektivischere Darstellung des Systems, die weder von der beraterisch-therapeutischen Brille des Aufstellungsleiters noch von der problemfokussierten Sicht des Klienten eingefärbt ist.

Insofern ist die Aufstellungsarbeit In diesem Aspekt eine konfrontative und phänomenologische Beratungsmethode: Sie konfrontiert den Klienten mit der repräsentierenden Wahrnehmung der Stellvertreter in der Aufstellung, die durch die Aufstellungsleitung abgefragt oder möglichst rein, d.h. ohne Beurteilung (> phänomenologische Haltung) wahrgenommen und ggf. verbalisiert oder für Interventionen genutzt wird.

Das Rätsel der repräsentierenden Wahrnehmung: Wie und Was?

Die repräsentierende Wahrnehmung ist jedoch nicht nur Herzstück, sondern nach wie vor auch das zentrale, wissenschaftlich noch nicht aufgeklärte Rätsel der Aufstellungsarbeit. Unklar ist zum Einen ihr Wirkungsmechanismus, d.h. wie sie zustande kommt, und zum Anderen, ob sie einen Zugang zu den dargestellten realen Personen des System ermöglicht oder lediglich die inneren teilweise unbewussten Bilder des Klienten von seiner Familie bzw. seinem System darstellt. (siehe Einleitung)

Hierzu gibt es lediglich verschiedene Erklärungsansätze und metaphorische Beschreibungen, z.B. die Idee der „morphogenetischen Felder“ (Rupert Sheldrake) oder die Metapher des „wissenden Feldes“ (Albrecht Mahr), die aber allesamt zum einen recht spekulativ und/oder metaphorisch sind und zum anderen keinen lückenlosen Wirkungsmechanismus anzugeben vermögen, wie die repräsentierende Wahrnehmung im Einzelnen zustande kommt
(> Erklärungsansätze der repräsentierende Wahrnehmung). Beide Erklärungsansätze behaupten vereinfacht dargestellt, dass wir in Aufstellungen durch die repräsentierende Wahrnehmung einen Zugang zu einem Feld haben, in dem holistisch Wissen über das reale System gespeichert ist.

Ein anderer Ansatz sieht in der repräsentierenden Wahrnehmung eben „nur“ ein räumliches Abbild des vom Klient verinnerlichten Bildes seiner Familie (bzw. seines Systems). Dies wird von den Stellvertretern über non-verbale Kommunikation, d.h. körpersprachliche etc. Signale des Klienten wahrgenommen (vgl. Spiegelneuronen). Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er ohne weiter Annahmen wie ein wissendes Feld auskommt. Sein Nachteil besteht darin, dass es schwer fällt, damit Wahrnehmungen der Stellvertreter zu erklären, die sehr präzise Sachverhalte des dargestellten Systems beschreiben, die dem Klienten teilweise selbst gar nicht bekannt sind (oder scheinen?).

Repräsentierende Wahrnehmung in der praktischen Arbeit

In der praktischen Arbeit berichten die Stellvertreter, kurz nachdem sie in eine Aufstellung hineingestellt werden, regelmäßig von Veränderung in ihrem Körpererleben, in ihren Gefühlen und in ihren Gedanken im Gegensatz zum Zustand als Beobachter von Außerhalb der Aufstellung wenige Minuten zuvor.

Matthias Varga von Kibéd differenziert hier sogar sechs Wahrnehmungsbereiche, in der sich die repräsentierende Wahrnehmung zeigt und abgefragt werden kann, vier verhaltens- und haltungsmäßige Veränderungen bzw. Tendenzen und eine repräsentationale:

  1. kognitive
  2. emotionale
  3. physiologische
  4. verhaltensmäßige
  5. haltungsmäßige sowie
  6. repräsentationale.

Konkret bedeutet dies, dass Stellvertreter in Aufstellungen nicht nur andere Gedanken und Bilder, Emotionen und Körperwahrnehmungen erleben, sondern auch andere Verhaltens- und Haltungstendenzen zeigen sowie andere Tendenzen, wen sie als Stellvertreter (Repräsentant) für wen eher ansehen. So erinnert mich z.B. die Stimme einer bestimmten Person an meinen Vater und dies wirkt dahingehend, dass ich diese fremde Person dann tendenziell als meinem Vater ähnlicher ansehe.

In bewegten Aufstellungen, in der die Stellvertreter achtsam ihren Bewegungsimpulsen folgen (> Bewegung der Seele), suchen die Stellvertreter ihrer repräsentierenden Wahrnehmung entsprechend einen guten Platz für sich in der Aufstellung. So wird die Dynamik des Systems sichtbar.

Aufstellungen sind kein Vaterschaftstest!

Viele AufstellerInnen arbeiten mit der repräsentierenden Wahrnehmung, ohne sich um die theoretischen Fragen zu kümmern. Sie nutzen sie einfach als Phänomen in Aufstellungen, das wirkt und die zentralen Hinweise liefert.

Die Zwickmühle besteht dabei darin, einerseits der repräsentierenden Wahrnehmung zu vertrauen (und so auch das Vertrauen der Stellvertreter in diese zu stärken), andererseits diese aber nicht für bare Münze zu nehmen, sondern nur für eine „Energie“ die sich in der Aufstellung, dem repräsentierenden System, zeigt.

Vertritt die Aufstellungsleitung die Ansicht, dass die Aufstellung tatsächlich zeigt, was im realen System ist, maßt sie sich an, durch die Aufstellung die Wahrheit über z.B. die Familie des Klienten, zu erkennen und wird so zu einer Art Priester oder vermeintliche Autorität in Sachen des Klientensystems.

Aus meiner Sicht wäre dies eine höchst unkonstruktivistische Haltung und führt überdies tendenziell zu einem therapeutischem Missbrauch: Die Leitung missbraucht dann ihre Autorität, um ihre aus der Aufstellung gewonnene Sicht der Wirklichkeit als Wahrheit hinzustellen.

Hellinger warnte vor dieser Gefahr mit dem einprägsamen Satz:

„Eine Aufstellung ist kein Vaterschaftstest!“.

Fruchtbar dagegen ist die repräsentierende Wahrnehmung und somit Aufstellungen aus meiner Sicht vielmehr deshalb, weil sie Dynamiken und teils verdrängte Aspekte in der Seele des Klienten berühren und so ermöglichen, dass der Klient sich damit auseinandersetzt.

Die Deutung und Schlussfolgerungen über die Wahrheit des in Aufstellungen gezeigten und damit auch die Selbstverantwortung muss aber beim Klienten verbleiben bzw. von ihm soweit möglich durch Nachforschungen, z.B. eben einem Vaterschaftstest, überprüft werden.